Museum Hours

Der Film nahm im Bruegel-Saal des Kunsthistorischen Museums Wien seinen Anfang. Als ich dort bestimmte Gemälde – alle davon aus dem 16. Jahrhundert – betrachtete, war ich besonders von der Tatsache beeindruckt, dass der inhaltliche Schwerpunkt, ja selbst die zentrale Figur, schwer zu bestimmen war. Das geschah eindeutig absichtlich, es war erstaunlich modern (ja sogar radikal) und hinterließ bei mir großen Eindruck. Auf einem dieser Gemälde mit der vorgeblichen Darstellung der Bekehrung des Paulus sieht man einen kleinen Jungen, der unter einem Baum steht, und ich war irgendwie auf ihn fixiert. Er hat wenig bis gar nichts mit dem vorliegenden religiösen Thema zu tun, ist jedoch keineswegs von marginaler Bedeutung, sondern zieht das Auge des Betrachters ebenso an wie der Heilige. Er ist ebenso wichtig wie alles andere im Bild.

Ich bemerkte eine Verbindung zu einer Sensibilität, die ich immer wieder empfinde, wenn ich dokumentarische Straßenaufnahmen mache, was ich seit vielen Jahren tue. Wenn es auf der Straße überhaupt so etwas wie einen Vordergrund und Hintergrund gibt, dann wechseln sie stets die Rollen. Alles Mögliche kann prominent hervortreten oder plötzlich verschwinden: Licht, die Umrisse eines Gebäudes, ein streitendes Paar, ein Regenschauer, der Klang von Husten, Spatzen … (Und das beschränkt sich nicht nur aufs Physische. Die Straße besteht aus Geschichte, Folklore, Politik, Wirtschaft und tausenden fragmentarischen Erzählungen.)

Im Leben können sich all diese Elemente frei miteinander verknüpfen, verbinden und danach wieder getrennte Wege gehen. Filme hingegen, besonders Spielfilme, wandeln normalerweise auf einem viel engeren und vorhersehbareren Pfad. Wie also kann man Filme machen, die uns nicht sagen, wo wir hinschauen und was wir empfinden sollen? Filme, die Zuschauer ermutigen, ihre eigenen Verbindungen herzustellen, seltsame Gedanken zu spinnen, sich unsicher darüber zu sein, was als nächstes geschehen wird oder selbst um „welche Art von Film es sich handelt”? Wie fokussiert man gleichermaßen auf kleine Details und große Ideen und wie kombiniert man ein wenig der Unmittelbarkeit und Offenheit einer Dokumentation mit Charakteren und erfundenen Geschichten? Das sind die Dinge, in die ich mich verstricken wollte, wobei das Museum als eine Art Dreh- und Angelpunkt dienen sollte. Wenn ich Filme mache, werde ich ebenso sehr von Gemälden (und Skulpturen, Büchern und Musik) beeinflusst wie vom Kino. Vielleicht würde dieses Projekt all das für mich zusammenbringen, eine Art Kulmination.

Jahre später begann ich – mit eingeschränkten Mitteln, aber einem aufgeschlossenen, kleinen Team sowie Zugang zu Museum und Stadt – eine einfache Geschichte zu skizzieren. Die Figur, die am besten geeignet wäre, deren Verlauf zu verfolgen (und Zeit genug hat, um über Sachen nachzudenken) würde ein Museumswärter sein. Vorzugsweise würde er von einem Laiendarsteller mit einer ruhigen Stimme gespielt, der sich mit Gelegenheitsjobs auskennt. Ich fand diese Person in Bobby Sommer.

Vor nahezu 25 Jahren sah ich eine Performance von Mary Margaret O'Hara und seither wollte ich sie in einem meiner Filme haben. Sie ist großartig und witzig zugleich und hat Erfahrung damit, an keine Form gebunden zu sein. Sie würde die Dinge sicherlich durch ungewöhnliche Perspektiven vermitteln, besonders wenn man sie in einer ihr unbekannten Stadt aussetzt und ihr Spielraum gibt.

Dieser Film konnte schlicht nicht entstehen, indem man ein Drehbuch fertigstellt und dieses mit Aufnahmen ausstattet. Stattdessen entstand er durch die Schaffung einer Reihe von Umständen – manche davon sorgfältig gesteuert, andere absolut unvorhersehbar. Das bedeutete, keine Sets zu verwenden (und schon gar nicht, sie abzuriegeln), sondern die Welt hereinzubitten …

Es gab noch andere wichtige Dinge, die man in Museen findet, von denen ich mich leiten ließ. In älteren Museen, die so wunderschön beleuchtet sind, wirken die Besucher selbst beinahe wie Kunstwerke – als ob sie die Rollen tauschen würden. Diese Übertragung macht die falsche Vorstellung von historischer Distanz zunichte; wir stehen vor einer Darstellung, die 400 oder 3000 Jahre alt ist, und es gibt eine Spiegelung, die in beiden Richtungen funktioniert. (Das ist eines der Dinge, die alte Museen sexy machen: eine ihnen anhaftende Erotik, die im Widerspruch zu der vielleicht vorherrschenden, bedauerlichen Ansicht steht, sie seien archaisch, bieder und irgendwie irrelevant.) Dieses Phänomen unterstreicht für mich, wie uns Kunstwerke aus jeder beliebigen Zeit unsere eigenen Zustände vermitteln. Die Wände, die das große, alte Kunstmuseum in Wien von der Straße und dem Leben draußen trennen, sind dick. Wir hegten die Hoffnung, sie porös zu machen.
Als sich ein Wiener Museumswärter mit einer rätselhaften Besucherin anfreundet, wird
das prächtige Kunsthistorische Museum zu einer mysteriösen Wegkreuzung, an der eine Ent-
deckungsreise beginnt – in ihrer beiden Leben,
die Stadt sowie die Art und Weise, wie Kunstwerke die Welt widerspiegeln – und letztlich auch formen.


Jem Cohen | A/USA, 2012 | 106 Min. | 1,78:1
englisch/deutsch | Tonmischung 5.1
Aufnahmeformat Super 16mm / 2K / HD
Vorführformat DCP / HDCAM